Eine nicht gehaltene Grabrede

Lieber Hans Scharoun!

Verziehen sei mir diese Anrede — wir kannten uns nicht einen einzigen Tag. Als du gingest, war ich noch nicht einmal in Planung. Uns trennen heute 50 Jahre: was ist aus uns, aus deinem Berlin geworden?

Wo man auch hin kuckt, Schuhkartons allüberall. Hie glasig, dort steinern, gleicherlei. Kein organhaftes Bauen, kein Ausloten der Wesenheiten. Doch auch so bedrängt, glänzt deine Philharmonie und läßt sich nicht verzwergen. Ihr Weinberg ist zum dem Grundprinzip für neue Konzertsäle geworden — weltweit. Die Häuser — ich denke vor allem an dasjenige, was dir „das Liebste war“, Haus Schminke zu Löbau — gelten auch 90-jährig als Inbegriff der zukunftsweisenden modernen Baugesinnung. Neue Bücher erscheinen jährlich, in diesem Jahre ganze zwei.
Man darf wohl ruhigen Herzens eins auf dich heben?

Aber: deine Bar haben wir nicht bewahrt.
Dein Kulturforun trotz etlicher Beschlüsse des Abgeordnetenhauses nicht vollendet.
In die Philharmonie geht unsereins als ob verschämt und des Raumerlebnisses nicht würdig, durch die Hintertür.

Ja, so ist es nunmal in Berlin, und war schon vor 50. Jahren nicht anders: paßt man nicht doppelt und dreifach auf, wird auch dar solideste Bau zur Bullette. In dieser Umgebung was wahres zu erschaffen, und das auf Dauer, das ist eine Kunst für sich. Das hast du gekonnt.
Wir — können nur versprechen, am Ball zu bleiben. Damit der nächste Grußredner, nochmals 50 Jahre später, mehr und besseres verkünden könne.
Wir sehen uns!

Kranzniederlegung am Waldfriedhof Zehlendorf, 25.11.2022. Kränze (von Rechts) von der Regierenden Bürgermeisterin, von der Scharoun-Gesellschaft, vom Kamswyker Kreis und der AfD-Fraktion. Links, der verhinderte Redner Dimitri Suchin: bei nur drei Anwesenden machte das Vortragen keinen Sinn.

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