Verwechslungen (ScharouNIE-3?)

Einigen reicht schon eine einzige Kurve oder eine vorspringende Ecke, um nach dem „Scharoun“-Stempel zu greifen — und eisern darauf zu beharren. Nach einer besonders mißglückten Korrektur („belegen Sie mit Jahr, Verlag, Seite und URL, daß dies kein Scharoun sei!“) soll hier eine Zusammenstellung einiger Bauten sein, die nicht seine sind — ganz egal ob mit oder ohne Bullauge, Zigarre oder Barett. Vielleicht wird daraus beizeiten auch eine Ausstellung ähnlich der „ScharouNIE„.

  1. 3. Rathaus Insterburg

    Die Zuschreibung des Wohn- und Verwaltungshauses (heute u.a. Stadtbibliothek), die seit Gennadij Rasumnyj in der Welt herumgeistert (früheste bekannte Meldung, „Polus+TV“, 7.2.1998) hatte zur Grundlage wohl die Annahme, die kleine Stadt Insterburg könnte keinen zwei Architekten der Moderne ein Zuhause gewesen sein.
    Tatsächlich nahm Scharoun 1927 am Wettbewerb zum Bau des 4. Rathauses Teil, doch mit einem gänzlich anderen Entwurf und ohne Erfolg. Der ausgeführte Bau ist schon zuvor begonnen und 1928 abgeschlossen worden, in einem weiteren Teil 1929. Als Entwerfer wird Georg Windt vermutet.
     
  2. Haus Haeffner

    Hans Scharoun und Adolf Rading unterhielten zwar 1926-1933 ein gemeinsames Büro, doch bedeutet es mitnichten, daß alle ihre Arbeiten dieser Zeit gemeinsame waren.
    Dieses Haus in Pichelsdorf (Spandau) wurde 1928 von Rading ohne Zuhilfenahme Scharouns erstellt.
     
  3. Haus Salzbrunn

    Es ist nicht bekannt, was die Gebäudegruppe Salzbrunner Str. 25 / Kudowastraße 27a in die Nähe von Scharoun bringen sollte — behauptet wird es zuweilen.
    Tatsächlicher Erbauer war 1928-1929 Harry Rosenthal. Scharoun ist in dieser Zeit noch in Breslau.
     
  4. Siedlung Sternefeld Hamburg

    Salvatore Gioitta veröffentlichte auf Flickr ein Bild eines angeblich 1933 erbauten und 1944 zerstörten Baublocks.
    Tatsächlich ist eine Montage aus mehreren Partien von „Casa Astrea“, 1951 von Luigi Moretti in Rom.
     
  5. „Anker“-Teigwarenfabrik Löbau

    Die Fremdenführer fassen die gesamte Fabrik an der Äußeren Bautzener Straße unter dem Namen Scharouns zusammen — auch die Denkmalschützer sprechen von einer Gesamtanlage, machen aber Unterscheidungen.
    Tatsächlich stammt die Fabrik größtenteils aus 1899 — geplant mitsamt einer Fabrikantenvilla. Diese nahm 1933 die Gestalt des „Hauses Schminke“ an, während hinter der 1934 umgestalteten Fabrikfassade nur die Treppenanlage samt Kantine und Direktion von Scharoun sind (1937-1941). Unklar, ob der Gesamtneubau der Fabrik, 1938 vorgestellt, auch von ihm wäre.
     
  6. Laubenganghäuser Karl-Marx-Allee

    Ab den 1990er Jahren zelebriert man die Laubenganghäuser Karl-Marx-Allee 102-104 und 126-128 als „neuentdeckte schützenswerte“ Bauten Scharouns. Später wechselt die Schreibweise zum gemeinsamen Entwurf, dann zum „Entwurf Ludmilla Herzenstein nach der Idee von Scharoun“. Von Repressalien wird berichtet.
    Tatsächlich entstand die Planung der „Wohnzelle Friedrichshain“ ab 1949 am Institut für Bauwesen und hatte den Kollektivplan zur Grundlage. Sie wurde von der selben Planergruppe bei der „Heimstätte Berlin“ überarbeitet, dem „Kollektiv Herzenstein“. Darin sind die beiden genannten Häuser von ihr (1950-1951), die schrägen Zeilen von Helmut Riedel, Richard Paulick u.a. Auch Scharoun entwarf mit, seine sägezahnförmigen Häuser waren einmal mittig zwischen den beiden Herzensteins eingezeichnet.
    Nach Bauende wechselte Herzenstein 1953 zum VEB Bauprojektierung Groß-Berlin, war im Vorstand des BdA (DDR) und stand dem Planungsamt Weißensee vor. Nur der Leiter der „Heimstätte Berlin“, Karl Brockschmidt, „verlor das Vertrauen“ der Oberen und starb bald.
      
  7. Freilichtbühne Rügen

    Eine undurchsichtige Seite (nicht zu verwechseln mit der echten Betreiber-Seite) will wissen, „…im Jahr 1949 begann [Scharoun] mit der Umsetzung seines Traums…“ von „…einer Bühne, die inmitten der Natur errichtet werden sollte und deren Umgebung Teil der Inszenierung sein sollte“. Sie soll „eines seiner bekanntesten Projekte“ sein, „ein Meilenstein der Architektur“, errichtet 1952-1956. Garniert wird die Aussage mit einem Bild der Waldbühne in Berlin.
    Tatsächlich ist die Waldbühne bei Bergen in keiner Scharoun-Literatur enthalten und war höchstwahrscheinlich eine Ting-Stätte wie die Berliner Namensvetterin. Ihre Eröffnung nach dem Kriege war zudem erst 1958.
     
  8. Architekturfakultät TU Berlin

    Bernhard Hermkes setzte sich für die Mit-Beauftragung von Hans Scharouns ein — und wird bei Instagram, aber auch von so manchen Studenten immer wieder seiner Urheberschaft beraubt.
    Tatsächlich sind nur die Räume der nicht gewordenen Städtebau-Akademie von Scharoun, mit dem A060-Hörsaal, der Professoren-Wendeltreppe zu den (heutigen) Kunstwissenschaftlern, und der gesamten neuen Fachbereichsbibliothek.
     
  9. Philharmonie

    Präzision ist bei jeder Wissensverbreitung nötig — bei der Arbeit mit Studenten erst recht oberstes Gebot. Wie kann es da passieren, daß ausgerechnet die Architekturfakultät (!) der Universität von Texas (!!) in ihren Prüfungsfragen (!!!) die Berliner Philharmonie mit dem Seier+Seier-Bild ihrer Kopenhagener Namensvetterin bebildert?

    Das Kollektiv „Arquinema“ geht auf Instagram noch weiter, und verbindet in seinem Lobbeitrag die Aufnahmen des Saales der Philharmonie in Dresden (7x), der Staatsbibliothek zu Berlin (2x) und des Foyers der Berliner Philharmonie (1x).
     
  10. Blumengroßmarkt, heute Kindermuseum „Anoha“.

    Wikipedia sieht da „…Vorderhäuser an [Friedrichstraße und Lindenstraße] … von Hans Scharoun…“, dahinter stünde die Markthalle, „…zwischen 1962 und 1965 in den ursprünglichen Formen, aber mit neuen Materialien wiederaufgebaut…“
    Tatsächlich hat und hatte das jetzige Haus keine „Vorderhäuser“, weder zur Friedrich-, noch zur Lindenstraße. Die Betonhalle weist auch keine formalen Aufnahmen der Vorgängerin aus Gußeisen, Glas und Ziegelstein auf. Sie ein Neubau, kein Wiederaufbau, und hat einen Autor: Bruno Grimmek. Eine andere Seite derselben Wikipedia weiß ihn sogar beim Namen zu nennen!
     
  11. Umbauung Mehringplatz

    Die Fachverwaltung für Stadtentwicklung schreibt zur „Südlichen Friedrichstadt“, „…Als städtebauliche Antwort auf die geplante Stadtautobahn wurde in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Hans Scharoun das Wohnquartier rund um den Mehringplatz entworfen… Hochhausbebauung [als] Abschottung … verkehrsberuhigte[r] Bereich um den Mehringplatz.“ Beata Gontarczyk-Krampe im „Tagesspiegel“ schiebt auch die Schnellstraßenplanung Scharoun in die Schuhe.
    Tatsächlich begann die Straßenverknüpfung Wilhelmstraße-Mehringdamm schon in den 1950ern mit dem Bau der Gewerbeförderungsanstalt (eingeweiht 1959), jene Lindenstraße-Zossener Str. ist (in der Planung) gar aus den 1930ern. Scharoun entwarf 1965 ein Büro- und Geschäftskranz und bewahrte den grünen Platz, während Walter Gropius im Wettbewerb diesen komplett auflöste. Die Hochhausscheiben sind eine Zufügung von Werner Düttmann.
     
  12. Wohnbebauung Hallesches Ufer

    Wohl wegen der gegenüberliegenden Bauten am Mehringplatz wird auch dieses Haus von Hermann Fehling (1968-1971) zu Scharoun mitgezählt.
     
  13. Märkisches Viertel

    Die Planungsgeschichte des Märkischen Viertels begann mit dem Entwurf von Georg Heinrichs, Hans Christian Müller und Werner Düttmann 1962. Die Umsetzung dauerte bis 1974. Scharoun muß dennoch dafür herhalten — weil sein Mitarbeiter 1937-1943 und 1949-1953, Chen Kuen Lee, darin zwei gekrümmte Hauswände schuf (Senftenberger Ring 71-92, 1970), ein weiterer, Stephan Heise (im Büro 1953-1963), die Wilhelm-Raabe-Grundschule (1965-1970, Kindertagesstätte bis 1973), und ein dritter, Peter Pfankuch (im Büro 1946-1958), die Häuser am Senftenberger Ring 50A-D (1966-1976). Bodo Fleischer, Scharouns Student, war verantwortlich für die evangelische Kirche am Seggelluchbecken (1970-1972).
    Scharouns Wohnhochhaus am Zabel-Krüger-Damm ist kein Teil vom Märkischen Viertel, bietet aber ein Ausblick darauf.
     
  14. Evangelisches Gemeindehaus Kladow

    Derselbe Stephan Heise baute 1970-1973 die „Kladower Philharmonie“, das evangelische Gemeindehaus am Kladower Damm 369. Etwa 10 Jahre zuvor war auch Scharoun vielfach in der Gegend tätig — setzte sich für den Neubau der katholischen Kirche St. Raphael ein (Alt-Gatow 49a, von Rudolf Schwarz 1960 entworfen, 1965 geweiht, 2005 abgerissen). Der Volksmund verschmolz dies zu einem einzigen Ereignis.
     
  15. Theater am Potsdamer Platz

    Es ist wohl wahr, daß Renzo Piano sein 1993-1998 errichtetes Musical-Theater an die Staatsbibliothek anlehnte, geometrisch wie optisch. In einer frühen Entwurfsfassung schlug er sogar einen neuen Osteingang in die Bibliothek vor, über den Marlene-Dietrich-Platz schwebte da ein Steg — geblieben sind davon ein schmaler Spalt zwischen der Spielbank und dem Theater und eine Freitreppe an der Rudolf-von-Gneist-Gasse.
    Im Diktus und im Detail liegen zwischen den Häusern Welten.
    Und dennoch wird das Theater immer wieder zu Scharoun gezählt.
     
  16. Habitat´67

    Zu den wohl seltsamsten Zuweisungen auf Pinterest gehört jene von Amélie Devaux: tatsächlich ist die Hausanlage in Montreal natürlich von Moshe Safdie.
     
  17. Mariendorf-Ost

    Laut Engel&Völkers handelt es sich bei der 1950-1957 auf einem freien Felde erbauten Siedlung Mariendorf-Ost um „historisch geprägten Kontext“, von Wils Ebert geschaffen und zugleich ein „Ergebnis einer visionären Zusammenarbeit von Architekten Hans Scharoun und Wils Ebert“. Tatsächlich hat die Siedlung eine Historie, war sie doch „das größte Wohnungsbauvorhaben in West-Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs„. Doch die Verbindung mit Scharoun findet sich einzig darin, daß Ebert 1945-1946 unter Scharoun im Planungsamt des Magistrates war und 1949 in der später als Kollektiv Herzenstein bekannten Gruppe, die die Wohnzelle Friedrichshain umsetzte.
     

Die Liste wird fortgeführt.

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